Wie man die Erinnerung an Atommüll wach hält

Artikel über die BFE-Tagung vom 4. 9. 2019 zum Wissenserhalt bei geologischen Tiefenlagern

In der Schweiz stehen drei Standortgebiete für den Bau geologischer Tiefenlager für radioaktive Abfälle in der Diskussion: Jura Ost (AG), Nördlich Lägern (AG, ZH) und Zürich Nordost (TG, ZH). Die Orte, wo die Lagerstätten am Ende gebaut werden, sollen nach heutiger Auffassung über eine sehr lange Zeit erkennbar bleiben, und das Wissen rund um die Tiefenlager über Tausende von Generationen weitergegeben werden. Wie das gelingen kann, skizziert nun eine Expertengruppe der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einem Bericht, der im Herbst veröffentlicht wird. Fachleute und Vertreter der Standortregionen haben die Vorschläge und ihre Folgen für die Schweiz Anfang September 2019 an einer Tagung im Kunsthaus Zürich diskutiert.

Dr. Benedikt Vogel, im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE)

Geologische Tiefenlager verwahren radioaktiven Abfall, der Menschen über Hunderttausend und mehr Jahre gefährdet, wenn diese mit ihm in Kontakt kommen. Deshalb müssen die Abfälle sicher verschlossen werden, und es muss sichergestellt sein, dass kein Mensch versehentlich in eine Lagerstätte eindringt. Dafür waren in der 1980er- und 1990er-Jahren plakative Idee entwickelt worden: Am Standort der Tiefenlager sollten grosse Stahldornen, Felsblöcke oder Erdwälle errichtet werden, die die Menschen vom Betreten des Geländes warnen, wurde vorgeschlagen. Eine andere Idee ging dahin, Katzen zu züchten, die auf radioaktive Strahlung mit einer farblichen Veränderung ihres Fells reagieren. Sie würden die Menschen vor einer allfällig austretenden Strahlung warnen.

Bis heute dauert die Diskussion an, wie der Standort und der Inhalt atomarer Lagerstätten über sehr lange Zeiträume im Bewusstsein der Bevölkerung gehalten werden können. «Während es früher hauptsächlich darum ging, mit Hindernissen das versehentliche Eindringen in die Lagerstätten zu verhindern, will man heute vorwiegend das Wissen um die Lagerstätten möglichst lange erhalten, um künftigen Generationen informierte Entscheidungen rund um das Lager zu ermöglichen», sagt Simone Brander, beim BFE als Expertin für die Entsorgung radioaktiver Abfälle tätig.

Ergebnisse der RK&M-Initiative

Eine vom Bundesamt für Energie organisierte Tagung in Zürich hat Anfang September 2019 diskutiert, wie das Wissen über bzw. die Erinnerung an nukleare Lagerstätten über Tausende, ja Hunderttausende von Jahren hinweg erhalten werden kann. «Markieren, hinweisen oder vergessen?», lautete der Titel. Allerdings wurde die dritte Variante – das Vergessen – von niemandem aus dem Kreis der Referentinnen und Referenten ernsthaft erwogen. «Verordnetes Vergessen funktioniert nicht», sagte dazu Dr. Stephan Hotzel von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS in Köln. Hotzel ist Vorsitzender der Initiative RK&M (für: Preservation of Records, Knowledge and Memory). In dem Gremium unter dem Dach der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben Fachleute aus 14 Ländern seit 2011 erörtert, wie sich Wissen und Informationen zu Tiefenlagern langfristig erhalten lassen.

Hotzel stellte in Zürich die Ergebnisse vor, die dieser Tage im Schlussbericht der RK&M-Initiative veröffentlicht werden. Herausgekommen ist nicht eine Patentlösung für alle Atomendlager weltweit, sondern ein «Werkzeugkasten» aus 35 Instrumenten, wie sich Hotzel ausdrückte. Das Spektrum reicht von der Dokumentation und Markierung über die Einrichtung von Archiven und Museen bis hin zu Aktivitäten von Aufsichtsbehörden und Gesetzgeber (vgl. Tabelle 01). Die Massnahmen müssten so ausgewählt werden, dass wichtige Informationen auch bei Teilverlusten verfügbar bleiben (Redundanz), und die betroffene Bevölkerung sei mit einzubeziehen (Partizipation), so Hotzel.

Allgemein verständliche Schlüsselinformationen

Frankreich hat mit dem Thema bereits konkrete Erfahrungen gesammelt, nämlich in der oberflächennahen Manche-Entsorgungsanlage für schwach- und mittelaktive Abfälle in La Hague (Normandie), die 1994 geschlossen wurde und als langfristige Lagerstätte vorgesehen ist. Die Verantwortlichen der Entsorgungsorganisation Andra, dem französischen Pendant zur Schweizer Nagra, erstellten für die Anlage ein ‹Key Information File› (KIF). Das 35seitige Dokument fasst die wichtigsten Informationen über die Anlage zusammen. Der Leitfaden richtet sich in allgemein verständlicher Sprache an eine breite Öffentlichkeit und soll dafür sorgen, dass sich kein Mensch bei der Anlage in Gefahr bringt und dass auch in Zukunft alle Informationen verfügbar sind, die einen angemessenen Umgang mit dem Lager gewährleisten.

«Wir stellen damit erstmals ein zusammenfassendes Erinnerungsdokument zur Verfügung, wie es die französische Gesetzgebung seit 2016 verlangt», sagte Andra-Entsorgungsexperte Jean-Noël Dumont in Zürich. Das Dokument wurde im Frühjahr 2019 an die französische Aufsichtsbehörde übermittelt. Es soll alle zehn Jahre aktualisiert werden. Das KIF ist eines der vielen Instrumente aus dem «Werkzeugkasten» der RK&M-Initiative. Die Idee ist, das KIF durch eine umfassendere, an technische Experten adressierte Sammlung aus Erinnerungsdokumenten (‹Set of Essential Records›/SER) zu ergänzen. Dr. Ulrich Noseck (Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS/Braunschweig) nannte die Erstellung eines SER anspruchsvoll, da es sehr viele Dokumente und sehr unterschiedliche Arten von Dokumenten umfassen soll. Damit die Informationen lange verfügbar bleiben, plädierte Noseck dafür, die Informationen in der ersten Zeit elektronisch zu speichern. Für die langfristige Speicherung würde er alterungsbeständiges Papier empfehlen, sagte Noseck.

Dauerhafte Markierung geplant

Der Schweiz bleibt noch Zeit zu entscheiden, in welcher Form die Erinnerung an das atomare Erbe in künftigen Generationen wachgehalten werden soll: Die beiden Schweizer Tiefenlager – eines für schwach- und mittelaktiven, ein zweites für hochradioaktiven Abfall – werden nach heutiger Planung erst 2065/74 mit den radioaktiven Abfällen befüllt sein und um 2118/24 definitiv verschlossen werden. Das Kernenergiegesetz von 2003 sieht eine «dauerhafte Markierung» der Tiefenlager vor. Wie diese genau aussehen wird, muss dereinst das Baubewilligungs-Gesuch nachweisen. Tiefenlager müssen so gebaut werden, dass sie den Strahlenmüll sicher verwahren. Standortmarkierungen seien nicht zwingend für die Sicherheit eines Tiefenlagers, «sondern sie dienen nur dazu, die Chance zu erhöhen, dass das Tiefenlager ungestört bleibt», sagte Dr. Felix Altorfer, Leiter des Aufsichtsbereichs Entsorgung beim Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI). Solange der Staat und das Bundesarchiv da sind, sei der Wissenserhalt über die Tiefenlager kein Problem, meinte Altorfer. Doch langfristig sei diese Voraussetzung möglicherweise nicht mehr gegeben, und deshalb müsse man auch diesen Fall mitbedenken.

Es gibt in der Schweiz und in vielen Ländern heute Vorschriften zur Aufbewahrung von Dokumenten über Nuklearabfälle, aber kaum verbindlich formulierte Anforderungen an Erhalt von Wissen und «Gedächtnis». Dr. Anne Claudel (Nagra) warb in Zürich für den Ansatz, auf der Grundlage der RK&M-Initiative eine entsprechende Strategie zu entwerfen, welche den Wissenserhalt rund um künftige Schweizer Tiefenlager langfristig sicherstellt. In der Pflicht sieht Claudel den Gesetzgeber, die Aufsichtsbehörde (ENSI) und die Entsorgungsorganisation (Nagra). «Es wird hier keine Verantwortung auf zukünftige Generationen abgeschoben, sondern diese erhalten die Chance, Verantwortung zu übernehmen, wenn sie denn wollen», sagte Claudel.

Impulse aus den Geisteswissenschaften

Die Zürcher Tagung ergänzte die Debatte des langfristigen Wissenserhalts um die geisteswissenschaftliche Perspektive aus Kunst, Literatur- und Kulturwissenschaft. Die belgische Philosophin Jantine Schröder nennt Tiefenlager ein «soziotechnisches Langzeitexperiment», dessen Erfolg erst ganz am Ende der Lagerzeit feststehen werde. «Kunst kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, um mit der Unkontrollierbarkeit des Experiments fertig zu werden», sagte Anna Volkmar, die an der Universität Leiden (Niederlande) eine Doktorarbeit zur Beziehung von Kunst und Nuklearenergie schreibt. Sie stellte verschiedene Kunstwerke vor, die sich mit Radioaktivität befassen, und sie berichtete, wie Studenten im Mai 2018 an der Freien Universität Amsterdam einen mittels 3D-Druck gefertigten Dämon rituell bestattet haben. Die Performance habe ein «Gefühl der Komplizenschaft» hervorgerufen, meinte Volkmar mit Bezug auf die Endlagerthematik. Kunst könne «eine Betroffenheit schaffen – als Grundlage für eine weitere Beschäftigung mit der Problematik», so Volkmar.

Kunst und Atommüll können sich mitunter sehr nahe kommen: Im holländischen Zwischenlager COVRA lagern heute Museen zwischen den Atommüll-Fässern einen Teil ihrer Kunstwerke ein. Auf dieses Faktum bezog sich in seinem Referat der Kulturwissenschaftler Dr. Cornelius Holtorf (Linné-Universität Kalmar/Schweden). Er versteht Atommüll «als eine besondere Art von Kulturerbe». Wenn um dieses Erbe heute und auch in Zukunft gestritten werde, diene dieser Konflikt letztlich auch dem Wissenserhalt, denn gerade die Polarisierung sorge dafür, dass sich die Menschen mit einem Thema beschäftigten, meinte Holtorf.

Allen Unwägbarkeiten zum Trotz

Bei all den unterschiedlichen Ansätzen, die das Zürcher Symposium zum Wissenserhalt rund um die langfristige Lagerung von radioaktiven Abfällen diskutierte, wurde immer wieder bewusst, dass die Gesellschaft angesichts der langen Zeiträume von Hunderttausend, ja einer Million Jahren vor einer letztlich nicht überblickbaren Aufgabe steht. Stephan Hotzel von der RK&M-Initiative wollte sich davon nicht entmutigen lassen und meinte, dass sich die Anstrengungen zum Wissenserhalt trotz aller Unwägbarkeiten lohnen würden. «Man verzweifelt, wenn man an eine Million Jahre denkt», räumte Hotzel ein, verwies aber auch darauf, dass «die radioaktiven Abfälle in 10’000 Jahren schon etwas ungefährlicher» sind als heute noch.

Hinweise

Die Referate des Symposiums «Markieren, hinweisen oder vergessen?» vom 4. 9. 2019 im Kunsthaus Zürich sind abrufbar unter: https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/kernenergie/radioaktive-abfaelle/grundlagen-entsorgung/geologische-tiefenlager.html

Der Schlussbericht der RK&M-Initiative ist in Kürze verfügbar unter: www.oecd-nea.org/rwm/rkm/

Auskünfte zum Thema des Symposiums erteilt Simone Brander (simone.brander[at]bfe.admin.ch), Leiterin des Dienstes Grundlagen Entsorgung im BFE.

Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte finden Sie unter www.bfe.admin.ch/ec-publikationen.

Fotos / Illustrationen

01_Werkzeugkasten

Die Tabelle der RK&M-Initiative listet neun Ansätze mit insgesamt 35 Werkzeugen (Mechanismen) auf, mit denen sich das Wissen rund um die Lagerung radioaktiver Abfälle für die Zukunft erhalten lässt. Tabelle: RK&M-Initiative/Übersetzung: B. Vogel

02_Spike Field

Ein bedrohlich gestaltetes Nadelfeld (‹Spike Field›) – so eine Vorstellung aus dem späten 20. Jahrhundert – könnte die Menschen von Endlagerstätten für Atomabfälle fernhalten. Illustration: Dokumentation RK&M-Symposium

03_Kunstwerk

Installation der belgischen Künstlerin Cécile Massart: Die drei Farbflecken sind nur behelfsmässig geschützt, so dass die Besucherinnen und Besucher die Farbe im Laufe der Zeit im Raum verteilen. Das Kunstwerk rege den Betrachter an, über die Wirksamkeit von Warn- und Schutzstrategien nachzudenken, sagt die Kunsthistorikerin Anna Volkmar. Illustration: Dokumentation RK&M-Symposium

04_Tiefenlager

Schematische Darstellung eines geologischen Tiefenlagers. Die obere Reihe zeigt die Aufbewahrung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen (SMA), die untere Reihe die Aufbewahrung von hochradioaktiven Abfällen (HAA). Grafik: BFE

05_Standorte

Nach einem Entscheid des Bundesrats vom November 2018 stehen die folgenden drei Regionen als Standorte für geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle in Diskussion: Jura Ost (AG), Nördlich Lägern (AG, ZH) und Zürich Nordost (TG, ZH). Die Regionen sind in der Grafik orange eingezeichnet. Die drei Gebiete in Gelb sind Reserveoptionen. Grafik: BFE